Die Folgen eines Overloads

So kann ein Overload enden.

Man hört Schreie. Schreie, die einem in den Ohren wehtun. Nur demjenigen, der sie verursacht, nicht.

Ein Kind liegt weinend im Bett, drückt das Kissen an das Gesicht und lässt ab und zu ziemlich laute Schreie aus sich heraus.

Nun hört man Schritte. Schritte, die einem sagen, dass ein Elternteil ins Zimmer kommt. Nach ca. 1-2 Stunden Wartezeit. Es kommt jemand, der mit mir reden und mir Trost schenken will.

Nochmals hört man einen Schrei, der die Ohren zittern lässt. Die Mutter macht leise die Tür auf und kommt ins Bett. Ihr Sohn findet Trost bei ihr.

Ein Schrei! Noch ein Schrei! Dieses Mal aber nicht aus der Kehle des autistischen Kindes, sondern aus dem Elternschlafzimmer. Die Jüngste im Bunde ist aufgewacht. Und – kein Wunder – den zweitjüngsten Sohn reisst es – dank zwei schreienden Kindern – ebenfalls aus dem Bett. Die älteste Tochter schläft – so wie der Vater. Jetzt muss sich die Mutter um ihre anderen Kinder kümmern. Das autistische Kind beginnt wieder zu Schreien. Jetzt dauert es sicher wieder eine Zeit, bis sie wieder zurück zu ihm herauf kann. Er schreit und schreit – unerträglich für die Ohren.

Trotz Allem sind die beiden Jüngsten eingeschlafen. Dass der Sohn nicht alleine ist, weckt die Mutter den Vater, der müde seine Augenlider öffnet. Sie flüstert ihm zu, ob er schnell zum Sohn herauf ins Zimmer kann. Er geht aus dem Zimmer. Der Sohn schreit immer lauter und lauter – was er wohl gar nicht merkt.

Nun ist die Türe wieder offen. Der Sohn merkt es, und schreit schon ein bisschen leiser – das merkt er. Der Vater schliesst die Türe wieder und setzt sich auf das Bett. Er redet seinem ältesten Sohn beruhigende Worte zu. Dann geht er wieder aus dem Zimmer.

Und es dringen wieder Schreie aus dem Zimmer. Das Zimmer mit sehr dichten Wänden und einer gut verschlossenen Tür lässt das tatsächlich sehr leicht durchdringen.

So – die älteste Tochter ist nun wach. Sie läuft – im Halbschlaf – ins Wohnzimmer und sagt: „Mama?“ „Mama?“ Nach ein paar misslungenen Versuchen schreit sie: „Mama!“ und nochmals: „Mama!“

So, jetzt schrecken alle auf. Jetzt sind alle wach. Mein Vater und meine Mutter sind wieder voll beschäftigt damit, mit den Geschwistern schlafen zu gehen. Und der Sohn schreit immer noch aus voller Kehle. Als wieder alle eingenickt sind, läuft die Mutter – so müde wie noch nie – die Treppe hinauf. Halbwach fasst sie die Türklinke, drückt sie ein Wenig runter und geht zu ihrem Sohn. Die Türe schliesst sie schnell wieder – das die anderen jetzt, um 23:00 Uhr, gemütlich einnicken können.

Der Sohn zeigt keine Müdigkeit. Von ihm hört man nur Schreie. Keine Worte, keine Sätze – nur Schreie. Nach ca. einer halben Stunde schläft die Mutter ein, trotz dem ewigen Geschrei. Auch ihr Mann schläft tief und fest. Nur der Sohn – er gibt keine Ruhe. Nun ist 03:00 Uhr morgens. Der lauteste Schrei, den der Sohn je verursacht hat, ertönt. Wieder schrecken alle auf. Wieder einschlafen tun sie nicht.

Am nächsten Morgen beginnt das normale Ritual – trotz allen Ereignisse dieser Nacht. Der Sohn wird ruhiger und hört auf zu schreien – endlich. Als er dann mit dem Bus – total übermüdet – er hat diese Nacht kein einziges Auge zugetan – in die Schule fährt, sprechen ihn seine Mitschüler an, wieso er denn so müde sei. Was soll er denn sagen? Das wüsste er auch nicht, wenn er nicht müde wäre – aber dann würde diese Frage ja logischerweise nicht gestellt werden.

Dieser Junge bin ich. Diese Situation ist mir zwar noch nie passiert, könnte aber eine Folge eines Overloads sein.

Meine Antwort ist: „Die Nachbarn renovieren gerade. Darum wars die ganze Nacht laut.“ Ich setze mich auf einen leeren Stuhl und lege den Rucksack auf den Sitz neben mir. Weit weg von meinen Mitschülern – weil ich gerade so müde bin.

Ich schlafe fast ein. Ich habe keine Zeit, um die Nachrichten auf dem Bus-Fernseher zu lesen und auch nicht, um aus dem Fenster zu schauen. Ich bin einfach nur müde.

Die Bushaltestelle ist ca. fünf Minuten von der Schule entfernt, wenn man zu Fuss geht. Ich habe rund fünfzehn Minuten Verspätung. Ich entschuldige mich vielmals – zum Glück hat meine Lehrerin Verständnis dafür.

Ich kann logischerweise nicht erklären, dass ich heute Nacht einen total autistischen Ausbruch hatte – denn meine Mitschüler wissen noch gar nicht, dass ich Asperger-Autist bin. Meiner Lehrerin könnte ich es theoretisch sagen – sie weiss es ja – aber ich traue mich nicht und habe keinen Mut.

Ich kann fast nicht Arbeiten. Ich bin viel zu übermüdet.

Dann, beim Mittagessen, muss ich höllisch aufpassen, dass ich nicht einschlafe. Das wäre nicht gerade sehr angemessen und ziemlich unhöflich und peinlich. Vor den Mitschülern, der Köchin und den Lehrern. Und die Spaziergänger könnten mich ja dann auch sehen, wenn sie sich anstrengen und sich auf ihr scharfes, alles sehende Auge konzentrieren würden. Zum Glück – also in dieser Situation zum Glück, sonst meistens nicht – tun sie das aber meistens nicht. Ich schaffe es noch knapp, ohne Probleme das Mittagessen zu überstehen. Und dann habe ich auch noch das Mittagstisch-Ämtli! Das bedeutet: 10-20 Minuten arbeiten. Darauf freue ich mich nicht wirklich – vor allem wegen meinem Zustand.

Dann, als ich es, zusammen mit einem Mitschüler, endlich erledigt habe, habe ich die Hälfte der Pause schon verpasst – leider. Und dann ist noch Sport. In meinem Zustand ist das wohl nicht gerade das Schlaueste. Also, der Rucksack ist mit einiger Mühe im Bus verstaut – und nach 3 Minuten Fahrt kommen wir in der Turnhalle an. Ich verpasse schon fast die Hälfte der Turnstunde – das freut mich tatsächlich ziemlich, Entschuldigung, Sportfreunde, aber jeder hat eine andere Meinung – und komme fast nicht mit. Als wir dann zurück in die Schule fahren, sind noch einmal 1-2 Stunden Arbeiten angesagt. Warum denn das? Ich bin dafür doch viel zu müde!

Schlussendlich holt mich niemand ab. Ich muss nochmals mit dem Bus fahren. Ich schlafe schon wieder fast ein. Dann muss ich noch 10 Minuten Laufen, bis ich endlich zuhause ankomme.

Zuhause werfe ich mich ins Bett und schlafe. Ich schlafe durch.

Und am nächsten Tag: „Clément! Es ist 12 Uhr! Du hast schon einen ganzen Morgen Schule versäumt!“ und „Clément! Ist dir eigentlich klar, dass die Schule jetzt vorbei ist?“ und „Clément, es gibt Abendessen!“ und „Clément, Zähne putzen!“

Ich schlafe eine ganze Woche durch.

Wie eine Nacht ohne Schlaf der Grund für eine Woche Schlaf sein kann.

Diese Geschichte passierte mir nicht wirklich. Das könnte nur die Folge eines Overloads sein – womöglich – das ist aber nicht sicher.

Aber – tatsächlich – wenn ich nach einem Schultag oder einer anderen Attraktion zu erschöpft bin – und ich dann sogar noch mit dem Bus zurückfahren muss – schlafe ich meist fast ein. Oder ganz. Und irgendwie speichert das mein Hirn: auch wenn ich alleine fahre, ich wache immer pünktlich zum Aussteigen auf!

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